„Sie waren wie mit Blindheit geschlagen…da gingen ihnen die Augen auf“ Lk 24

 


Gott liebt wie ein Smaragd grün ist.

 

 


 

Simone Weil schreibt in ihr Tagebuch:  Gott liebt nicht wie ich liebe, Gott liebt wie ein Smaragd grün ist.


Das Tagebuch war für sie der Ort, an dem sie wichtige Einfälle, Gedanken, Erkenntnisse notierte, um sie vielleicht später in einem Essay, einem Artikel aufzugreifen und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Da sie schon mit 33 Jahren starb,  gelang das nicht mehr für alle Bereiche, aber die Tagebücher haben auch einen Vorteil für uns. Sie lassen uns teilhaben an dem Prozess des Denkens und Erkennens.

 

Simone Weil kennt die unmittelbare Erfahrung von Liebe und versucht dieses wortlose Erleben oder diese Erfahrung jenseits der Worte mit Worten zu erkunden und zu reflektieren.

Wenn sie gegenüberstellt: Wie ich liebe und wie Gott liebt so spricht sie von unterschiedlichen Dimensionen der Erfahrung, die auch unterschiedliche Qualitäten haben.

Das wird z.B. besonders deutlich in den folgenden  Passagen aus dem Jahr 1942

(C4 S. 284ff):

Die göttliche Liebe, das ist die bedingungslose Liebe. Einen Menschen in Gott lieben, heißt, ihn bedingungslos lieben. Man kann einen Menschen nur dann bedingungslos lieben, wenn man in ihm eine unzerstörbare Eigenschaft liebt.

   In einem gewöhnlichen Menschen ist eine einzige Eigenschaft unzerstörbar, nämliche die Tatsache ein Geschöpf zu sein.

In jenen, die zweimal geboren sind, die von oben durch den Geist gezeugt wurden, die durch den Tod und die Auferstehung Christi gegangen sind, gibt es eine zweite unzerstörbare Eigenschaft. Die ein Kind Gottes zu sein.

(Die indische Begrüßung: „ Namaste – ich grüße Gott in dir,“ bringt genau das auch zum Ausdruck.)

Sie folgert:

   Das ergibt zwei bedingungslose Arten der Liebe zu den Menschen. Die eine ausgedrückt in dem Gebot „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, die andere in dem Gebot „liebet einander“.

 

Die Philosophin fährt fort, indem sie die Möglichkeit einer tatsächlich bedingungslosen Liebe erkundet:

   Was wir von der menschlichen Liebe verlangen, ist eine Unmöglichkeit; ein auswegloser Widerspruch. Wir wollen nicht bedingt geliebt werden. Wer sagen würde: „Ich werde dich lieben, solange du gesund bist; wenn du krank bist, liebe ich dich nicht mehr“, würde voll Zorn zurückgewiesen werden. Andererseits wollen wir auch keine Liebe, die uns mit der Masse in einen Topf wirft. Wer sagen würde: „Ich liebe alle blonden Frauen, dich nicht mehr oder weniger als die anderen“ oder: „Ich liebe alle Pariserinnen“, würde genauso zurückgewiesen werden. Wir wollen bedingungslos bevorzugt werden. Nun sind aber alle Eigenschaften, die uns von anderen unterscheiden, bedingt und können verschwinden. Wir verdienen bedingungslos nur die Stufe der Aufmerksamkeit, die dem elendesten aller Geschöpfe geschenkt wird, das heißt ein unendlich Kleines.

   Dennoch ist es wahr, dass wir es verdienen, nicht nur bevorzugt, sondern einzig und allein, ausschließlich geliebt zu werden. Aber das, was in uns das verdient, ist der unerschaffene Teil der Seele, der identisch ist mit dem Sohn Gottes. Wenn das aus Eigenschaften bestehende Ich zerstört wird und dieser Teil zum Vorschein kommt, dann „lebe ich nicht mehr in mir, sondern Christus lebt in mir“; wer immer einen Menschen liebt, der soweit ist und weil er soweit ist, liebt in seiner Gestalt Christus. Das ist eine unpersönliche Liebe.

   Eine Person unpersönlich lieben, das bedeutet in Gott lieben.

Soweit Simone Weil.

Sie legt dar, dass beide Arten der Liebe, der Verbundenheit  im Menschen angelegt sind: sowohl die Weise wie ein Mensch zu lieben als auch die Weise in Gott zu lieben und mit zunehmender Selbsterkenntnis wird man merken, dass die Verbundenheit, die an Bedingungen und Erwartungen geknüpft ist, durchaus überwiegt. „Wenn du nicht tust, was ich für richtig halte, was ich von dir als meiner Freundin/meinem Freund, meinem Partner/meiner Partnerin erwarte, dann gibt es Ärger, dann ist der Ofen aus.“ An die Stelle von  Verbundenheit und Wertschätzung treten eine Mauer aus Zorn, Stolz und Rechthaberei. Manchmal auf ganz subtile Weise, so subtil, dass wir selbst uns über unseren Stolz und unsere Rechthaberei täuschen. Denn „wir haben ja Recht“. Und gleichzeitig ist auch wahr, was Simone Weil betont: Wir selbst wollen bedingungslos bevorzugt werden.

 

An dieser Stelle bekommt unsere Übung des Stillen Sitzens und der Haltung, die sich daraus ergeben kann, eine besondere Bedeutung. Wir erinnern uns an Simone Weils Entdeckung und Betonung der Aufmerksamkeit und der Betrachtung (Kontemplation): Innehalten, schauen was ist, staunen, erkennen. Die Achtsamkeit, das Gewahrsein, das Spüren sind das Bindeglied zwischen den Dimensionen. Die Achtsamkeit pflegen, bedeutet  die Erweiterung der Liebesfähigkeit   zuzulassen.

 

Die Zen-Lehrerin Charlotte Joko Beck ( Zen im Alltag) benutzt dafür ein ganz treffendes Bild. Sie sagt: Man muss sein ABC lernen. ABC, das will nicht nur sagen, dass es sich um etwas Grundlegendes handelt,  sondern es steht auch für drei englische Worte: A bigger container, ein größeres Gefäß.

Unsere Übung ermöglicht uns und besteht darin, ein größeres Gefäß, ein größerer Raum zu werden.  Das ist keine Übung, die sich auf besondere Meditationszeiten beschränkt, sondern die mitten im Alltag praktiziert sein will.

Was geschaffen wird und was wächst, ist das Maß an Leben, das ich aufnehmen kann, ohne dass es mich erregt oder beherrscht. Dieser Raum hört nie zu wachsen auf. Solange wir leben, merken wir, dass unser Gefäß, unser Fassungsvermögen begrenzt ist, und genau an diesem Punkt setzt  unser Üben an. Wo ist dieser Punkt? Genau dort wo wir nur das geringste Maß an Aufregung und Ärger empfinden. Das ist das ganze Geheimnis. Und die Kraft unseres Übens zeigt sich darin, wie umfassend das Gefäß, der Raum wird.

Nicht immer sind wir dazu bereit uns auf die Übung einzulassen. Das ist auch ganz natürlich, denn niemand ist immer dazu bereit. Es ist auch hilfreich zu erkennen, dass man in dieser Situation nicht bereit ist ein größerer Raum, ein größeres Gefäß zu werden.

 

Wie siehe die Übung konkret aus? Da ist z.B. ein Streit, ich ärgere mich über etwas, bin wütend.

Ich halte inne. Beobachte, was in mir abläuft. Beobachte die Gedanken. Es ist  als sähe ich einen Film. Ich sehe und höre vielleicht: „Was er getan hat, was er gesagt hat und was ich dann gesagt habe und genauso passiert das immer und ich weiß noch genau wie sie damals und ich dann damals…“ Dann klingen die Gedanken ab. Ich spüre, wie sich mein Ärger, meine Wut rein körperlich anfühlen: ich spüre die Verspannung, die Verkrampfung oder die Durchblutung bis in die Fingerspitzen. Es bleibt die unmittelbare Erfahrung der physischen Reaktion in meinem Körper, das direkte Erleben. Da es im unmittelbaren Erleben keine Dualität gibt, werde ich allmählich in die Dimension gelangen, in der ich weiß, was zu tun ist und was der nächste Schritt ist. Dort weiß ich, was richtiges Handeln ist, nicht nur für mich, sondern auch für die anderen. Indem ich ein größeres Gefäß werde, erfahre ich Einssein auf unmittelbare Weise.

Durch unseren Übungsweg wird die trennende Emotion als eindeutig körperlicher Zustand erfahren. Ich erfahre, dass ich etwas anderes bin als meine Wut, dass ich größer bin als mein Ärger und das befähigt mich ein größeres Gefäß entstehen zu lassen, innerlich zu wachsen.

Wir sehen hier: Es geht nicht darum gefühllos zu werden oder so zu tun als gäbe es starke Emotionen nicht, sondern im Gegenteil. Es geht darum diese Emotionen in all ihren Komponenten und  bis in die letzten Tiefen tatsächlich zu spüren.  Wir werden dabei nicht Zuschauer unseres Lebens sondern es schließt sich eine neue Dimension unseres Lebens auf. Wir werden nicht mehr von den Emotionen beherrscht sondern wir leben mit ihnen. Indem die Fähigkeit wächst, zunächst innezuhalten und zu beobachten und zu spüren und zu erleben, wachsen auch zwei andere Dinge: Weisheit – die Fähigkeit das Leben so zu sehen, wie es ist und Liebe, die unverstellte Verbundenheit.

Es ist in der Regel ein Prozess. Es geht dabei nicht in erster Linie um Verhaltensveränderung, obwohl das auch geschehen kann, sondern es geht darum den Bewusstseinsraum sich weiten zu lassen.

 

Es geht auch nicht darum, was man im Einzelnen beobachtet. Es könnte auch Selbstmitleid oder Unlust oder Traurigkeit sein. Eine Freundin, die gerade eine Krebstherapie macht, fühlte sich in gedrückter Stimmung und sagte dann: „Ich habe beschlossen, heute Abend werde ich mir etwas Zeit dafür nehmen mir selbst leid zu tun.“ Und die Herrschaft der Emotion war gebrochen. 

 

Die idealtypische Darstellung des Ablaufs klingt einfach, aber was sie so schwer macht ist, dass sie eine echte Umkehr erfordert, einen Wechsel der Blickrichtung. Ich betrachte nicht mehr was der oder die andere oder was das Schicksal vermeintlich falsch gemacht hat, sondern ich betrachte, was in mir abläuft und das erfordert Hingabe. Ich muss bereit sein, das, was in mir abläuft hin zu geben, wir könnten auch sagen, zu opfern. Normalerweise will man das nicht, oder erst dann, wenn es absolut keine andere Möglichkeit mehr gibt und auch dann nicht immer.

Was dabei geschieht, ist nicht Auslöschung sondern Wandlung – Auferstehung, Leben in gewandelter Form. In der Schule lernt man, dass Energie nie verloren geht sondern nur neue Formen annimmt. Das ist ein wunderbares Bild für das, was innerlich abläuft. Die „Energie“, die in der Emotion gebunden ist, wandelt sich in erweitertes Bewusstsein und zielgerichtete Handlungsfähigkeit, die weiterbringt und nicht immer wieder  die gleichen Situationen heraufbeschwört.

Dabei ist wichtig zu wissen, dass der Prozess von sehr unterschiedlicher Dauer sein kann und es wäre fatal zu denken: „Bei mir funktioniert das nicht“, wenn es nicht sofort klappt.  Das ist so ähnlich als ob  jemand meint, sobald er  oder sie ein Musikinstrument in die Hand nimmt, könnte er es auch wie ein Profi spielen und wenn das nicht so ist, sich für unbegabt halten würde.

Wir sprechen bei unserem kontemplativen Sitzen nicht umsonst von einer Übung. Was wir brauchen sind Entschlossenheit, Ausdauer, Humor und Freunde, die mit uns gehen.

Zum Schluss noch eine kleine Sufi-Geschichte:

 

Shibli wurde gefragt: „Wer hat dir den Weg gezeigt?“

Shibli antwortete: „ Ein Hund. Ich sah ihn, wie er eines Tages am Rande des Wassers stand – halb tot vor Durst. Jedes Mal wenn er trinken wollte, schrak er vor  seinem eigenen  Spiegelbild im Wasser zurück, weil er glaubte, einen anderen Hund vor sich zu haben. Schließlich war seine Not so groß, dass er alle Furcht beiseite warf und ins Wasser sprang…worauf hin sich das Spiegelbild auflöste. Der Hund fand, dass das einzige Hindernis zwischen ihm und dem, was er suchte, sich aufgelöst hatte – nämlich er selbst. Genauso verschwand auch das, was mich gehindert hatte, als ich begriff, dass es allein das war, was ich für mein eigenes Ich gehalten hatte. So wurde mir mein Weg offenbart – durch das Verhalten eines Hundes.“