Februar

 

Ihr seid das Licht der Welt (Mt 5,14)

 

Gott liebt wie ein Smaragd grün ist.

 

 

Simone Weil, von der der Satz dem Sinn nach stammt,  wurde 1904 in eine jüdische Familie hineingeboren, aber sie wuchs ohne jede formale religiöse Erziehung auf. Ihr Studieninteresse war später auch eher die Philosophie. Durch Begegnungen und für sie völlig unerwartete Erfahrungen wächst ihr Interesse an verschiedenen Religionen und ganz besonders am Christentum. Sie fühlte sich später als Christin ohne allerdings formal der katholischen Kirche beizutreten. Sie schrieb einmal: Man muss katholisch sein. Mit katholisch meinte sie aber nicht die katholische Kirche, so wie sie zu ihrer Zeit, also in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts existierte, sondern sie wollte das Adjektiv katholisch in seiner Ursprungsbedeutung allumfassend verstanden wissen. Ausgrenzungen und Abgrenzungen hielt sie für falsch, da nicht im Sinne der allumfassenden Wahrheit und Liebe.

Ihre Aufzeichnungen sind für uns Heutige deshalb so besonders interessant, weil sie in ihrem Denken und Schreiben gleichsam von außen auf die Religion blickt, während sie gleichzeitig von der ewigen Wahrheit, die die Religion dem Anspruch nach verkündet, zutiefst angerührt ist. Christen ermöglicht das einen neuen Blick auf die Tradition, in der sie aufgewachsen sind, und Nichtchristen erlaubt es einen undogmatischen Einblick in das, wofür diese Religion ihrem Anspruch nach steht.

In Briefen an den Freund Pater Perrin, die sie zum Teil verfasste,  kurz bevor ihre Auswanderung in die USA bevorstand, versuchte sie ihren spirituellen Werdegang darzustellen und zwar unter dem Eindruck einer gewissen Dringlichkeit und Endgültigkeit, da sie nicht wissen konnte, ob sie den Adressaten jemals wiedersehen würde. Gleichzeitig dienten die Formulierungen an diesen Gesprächspartner zur eigenen Klärung.  Sie schrieb z.B. im Mai 1942:

 

Bis zum vergangenen September war es mir in meinem ganzen Leben niemals geschehen, dass ich auch nur ein einziges Mal gebetet hätte, zumindest nicht im buchstäblichen Sinne des Wortes. Niemals hatte ich  mich laut oder in Gedanken mit Worten an Gott gewandt. Niemals hatte ich ein liturgisches Gebet gesprochen. Hin und wieder kam es wohl vor,  dass ich mir das „Salve Regina“ aufsagte,  doch nur als ein schönes Gedicht.

Als ich im letzten Sommer mit Thibon das Griechische trieb, hatte ich das Vaterunser auf griechisch Wort für Wort mit ihm durchgenommen. Wir hatten uns versprochen, es auswendig zu lernen. Ich glaube, er hat es nicht getan. Auch ich nicht, wenigstens damals nicht. Als ich einige Wochen später im Evangelium blätterte, kam es mir in den Sinn, dass ich es, da ich es mir versprochen hatte und es recht sei, auch tun sollte. Ich tat es. Da hat die unendliche Süßigkeit dieses griechischen Textes mich derart ergriffen, dass ich einige Tage lang nicht umhin konnte, ihn mir unaufhörlich zu wiederholen. Eine Woche später begann ich mit der Weinlese. Ich sprach das Vaterunser auf griechisch jeden Tag vor der Arbeit, und im Weinberg habe ich es dann noch oftmals wiederholt.

Seitdem habe ich mir als einzige Übung die Verpflichtung auferlegt, es jeden Morgen ein Mal mit unbedingter Aufmerksamkeit zu sprechen. Wenn meine Aufmerksamkeit unter dem Sprechen abirrt oder einschläft, und sei es auch nur im allergeringsten Grade, so fange ich wieder von vorne an, bis ich ein Mal eine völlig reine Aufmerksamkeit erreicht habe. Dann kommt es wohl mitunter vor,  dass ich es aus reinem Vergnügen noch einmal von vorn aufsage,  aber nur, wenn das Verlangen mich treibt.

Die Kraft dieser Übung ist außerordentlich und überrascht mich jedes Mal,  denn, obgleich ich sie jeden Tag erfahre, übertrifft sie jedes Mal meine Erwartung.

Mitunter reißen schon die ersten Worte meinen Geist aus meinem Leibe und versetzen ihn an einen Ort außerhalb des Raumes,  wo es weder eine Perspektive noch einen Blickpunkt gibt.

Der Raum tut sich auf. Die Unendlichkeit des gewöhnlichen Raumes unserer Wahrnehmung weicht einer Unendlichkeit zweiten oder manchmal dritten Grades. Gleichzeitig erfüllt diese Unendlichkeit der Unendlichkeit sich allenthalben mit Schweigen, mit einem Schweigen,  das nicht die Abwesenheit des Klanges ist, sondern das der Gegenstand einer positiven Empfindung ist, sehr viel positiver als die eines Klanges. Die Geräusche, wenn deren da sind, erreichen mich erst, nachdem sie durch dieses Schweigen hindurchgegangen sind. ( Zeugnis für das  Gute S. 113/114)

 

Einzelne Aspekte möchte ich einmal aufgreifen.

Die Weise, wie Simone Weil das Vaterunser hier betet, ähnelt auf sehr starke Weise unserer Praxis des kontemplativen Gebets, des Gebets der Sammlung.  Wir haben in der Regel allerdings ein kürzeres Gebet oder Wort, das uns durch seinen Wohlklang oder seine Bedeutung einmal angezogen hat und das uns zum Fokus, zum Sammelpunkt für unsere Gedanken geworden ist. Es ist auch möglich, immer wieder von eins bis zehn zu zählen und immer dann, wenn die Aufmerksamkeit sich wieder verloren hat, mit dem Zählen von vorne zu beginnen.

Aufmerksamkeit, das meint hier nicht angespannte Konzentration sondern heitere Entschlossenheit, immer wieder zu dem einen zurückzukehren.

Simone Weil schreibt:

 

Die Aufmerksamkeit besteht darin, das Denken auszusetzen, den Geist verfügbar, leer und für den Gegenstand offen zu halten, die verschiedenen bereits erworbenen Kenntnisse, die man zu benutzen genötigt ist, in sich dem Geist zwar nahe und erreichbar, doch auf einer tieferen Stufe zu erhalten, ohne dass sie ihn berührten. Der Geist soll hinsichtlich aller besonderen und schon ausgeformten Gedanken einem Menschen auf einem Berge gleichen, der vor sich hinblickt und gleichzeitig unter sich, doch ohne hinzublicken, viele Wälder und Ebenen bemerkt. Und vor allem soll der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen.

 

Über die Wirkung des Gebetes der Aufmerksamkeit, wie sie sich beim Sprechen des Vaterunsers einstellt, schreibt sie:

 

Mitunter reißen schon die ersten Worte meinen Geist aus meinem Leibe und versetzen ihn an einen Ort außerhalb des Raumes,  wo es weder eine Perspektive noch einen Blickpunkt gibt.

 

Diese Formulierung mag dem einen oder anderen befremdlich erscheinen oder ihn anregen, sich zu fragen, wie das wohl gemeint ist.

 

Sie beschreibt hier eine Erfahrung, die, so möchte ich einmal behaupten, jeder und jede von uns kennt. Wenn man z.B. etwas sehr Schönes betrachtet, vielleicht eine Sonnenuntergang oder die Himmelsfärbung am Morgen oder einen schönen Vogel, der gerade am Futterhäuschen sitzt oder ein Gemälde, einen Gesang, dann vergisst man in diesem Augenblick, vielleicht den Bruchteil einer Sekunde, wer man ist. Man analysiert nicht, man beschreibt nicht, man vergleicht nicht. Für einen Moment ist man wie in eine andere Welt enthoben, eine Welt, die auch da ist, zu der wir aber in der Regel eher selten Zugang haben.

 

Das kontemplative Gebet, bei dem Einfachheit und Wiederholung der äußeren Form entscheidend sind, bereitet für den Zugang zu dieser Tiefendimension des Menschen. Zu der Dimension, wo man einfach nur da ist. Das ist die Dimension symbolisiert durch den Smaragd, dessen Wesen es ist grün zu sein.  

 

Simone Weil fuhr dann fort:

 

Gleichzeitig erfüllt diese Unendlichkeit der Unendlichkeit sich allenthalben mit Schweigen, mit einem Schweigen,  das nicht die Abwesenheit des Klanges ist, sondern das der Gegenstand einer positiven Empfindung ist, sehr viel positiver als die eines Klanges. Die Geräusche, wenn deren da sind, erreichen mich erst, nachdem sie durch dieses Schweigen hindurchgegangen sind. ( Zeugnis für das  Gute S. 113/114)

 

Das Schweigen als Gegenstand einer positiven Empfindung meint nicht unbedingt positiv im Sinne von gut sondern von existent, anwesend. Und je tiefer unser Schweigen ist, je mehr stellt sich die Empfindung ein, dass es zwar Geräusche gibt, dass diese aber eingebettet sind in diese Stille, so wie auch ich eingebettet bin in diese Stille.

 

Juliana von Norwich benutzt einen Mantel als Vergleich: Er ist der Mantel, der uns einhüllt und umgibt, der uns umfasst und überall umschießt,  aus Liebe…Verharre darin, und du wirst mehr erfahren…ohne ein Ende.

 

Ein Psalmwort sagt:

Wie Berge Jerusalem rings umgeben

So ist der Herr um sein Volk. ( Psalm 125)

 

Es könnte  z.B. die Erfahrung sein, dass man sich mitten in einer Gefahr  plötzlich behütet und geschützt fühlt.

 

„Entschuldigung“, sagte der kleine Fisch aus dem Ozean zu einem anderen. „Du bist älter und erfahrener als ich und kannst mir wahrscheinlich helfen. Sag mir, wo kann ich die Sache finden, die man Ozean nennt? Ich habe vergeblich überall danach gesucht.“ -„Der Ozean“, sagte der ältere Fisch, „ist das, worin du jetzt schwimmst.“ – „Das? Aber das ist ja nur Wasser. Ich suche den Ozean“, sagte der jüngere Fisch sehr enttäuscht und schwamm davon, um anderswo zu suchen.

Es kam jemand zum Meister und sprach: „Jahrelang habe ich nun nach Gott gesucht. Ich bin von zu Hause weggegangen und habe überall nach ihm gesucht, wo er angeblich sein soll: auf Bergesgipfeln, im Herzen der Wüste, in der Stille der Klöster und in den Behausungen der Armen.“

„Hast du ihn gefunden?“ – „Ich wäre ein eitler Lügner, sagte ich ja. Nein, ich habe ihn nicht gefunden. Und ihr?“

Was konnte ihm der Meister antworten? Die Abendsonne sandte goldene Strahlen in den Raum. Hunderte von Sperlingen tschilpten vergnügt auf einem nahen Feigenbaum. In der Ferne konnte man Straßenlärm hören. Ein Moskito summte warnend am Ohr, dass er gleich zustechen würde (Es entsteht also im Schweigen diese wunderbare Stille, in die alle diese Geräusche hineinfallen, aber der Suchende in der Geschichte ist so mit seiner Suche beschäftigt, dass er das nicht wahrnimmt . Und die Geschichte fährt fort:) – …und doch konnte dieser gute Mann dasitzen und sagen, er hätte Gott nicht gefunden, er würde immer noch nach ihm suchen.

Nach einer Weile verließ der Mann enttäuscht das Zimmer des Meisters, um anderswo weiterzusuchen. Und der die Geschichte aufgeschrieben hat, kommentiert:

Kleiner Fisch, hör´ auf zu suchen,  es gibt nichts zu suchen. Sei einfach still, öffne die Augen und sieh um dich. Du kannst es nicht übersehen. (de Mello, Warum der Vogel singt S. 18-19)

So wie der Smaragd grün ist, so liefert uns der Augenblick alles an Liebe, was wir brauchen. Das Stille Sitzen und das sammelnde innere Gebet helfen dabei, in einem Bewusstseinszustand zu sein, wo wir wissen, dass das ohne Frage wahr ist.

 

Gertrud Kieserg